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Minkowski

Im Blau-Land und im Rot-Land

Die Relativitätstheorie von Albert Einstein, für Laien erklärt. Das geht
nicht. Oder doch? Begegnung mit einem Professor für Theoretische Physik.

«Damit ist erklärt, was Raum-Zeit in Blau-Land bedeutet und wie die
Zeit-Raum Koordinaten (t, x ) definiert sind. Bis auf die anders als
üblich frei gewählten Einheiten entspricht approximativ das Blau-Land
unserem Alltag, wenn wir jede Bewegung relativ zu den etwa durch
Kirchtürme markierten Fixpunkten als nicht zu Blau-Land gehörend
annehmen. Der Punkt ( t = 0, x = 0 ) sei Olten um 12 Uhr (heute).»

(Peter Minkowski: Gedanken zur Gleichzeitigkeit, aus einem E-Mail)

Kurz und klar wollen es die Journalisten haben. Frage: Einstein hat die
Physik revolutioniert. Was war sein wesentlichster Beitrag? Peter
Minkowski, Professor für Theoretische Physik an der Uni Bern und
Mitglied der Einstein-Gesellschaft Bern, räuspert sich und hebt an. Das
Gespräch am Telefon wird für den Fragenden innert Kürze zur Reise in ein
schwarzes Loch. Der Professor ufert aus, in all seiner Genialität und
Zerstreutheit, dem Journalisten bleibt die Tinte weg. Stopp, Herr
Minkowski. Können wir das nicht schriftlich machen, per Mail? Aber
sicher, kein Problem, er werde sich Mühe geben, das sei auch für ihn
eine Herausforderung, wir könnten es zumindest versuchen.

Kurz und klar wollen es die Journalisten haben. Vor allem dann, wenn
etwas Komplexes ansteht, das man «dem Leser, der Leserin» nahe bringen
will. Die übliche Formel: Versuchen Sie doch einfach, das Ganze
herunterzubrechen und in ein paar Sätzen das Wesentliche herüberzubringen.

Also fragen wir in diesem Fall einen Professor für Theoretische Physik,
der einem naiven Durchschnittsmenschen in guter Anschaulichkeit erklärt,
was das ist, zum Beispiel die Relativitätstheorie. Und wie sich Einstein
Raum und Zeit vorstellte. Und wie es vorher war, in den Jahrhunderten
seit Newton. Und allenfalls noch etwas Gravitationstheorie. Und sicher
auch die Frage, was denn das alles für einen Sinn habe.

Die Gleichzeitigkeit

Klong. Das erste Mail von Professor Minkowski. Er bedankt sich für die
Fragen und lässt mir gleich eine «vorbereitende Basis für Ihre Fragen»
zukommen. Ein PDF-File mit Skizze. Er schreibt dazu:

«Mein Grundsatz ist, dass gerade die Fragen, die Sie stellen, ohne einen
vorbereitenden Hintergrund, gerade für und durch eine breite
interessierte Öffentlichkeit, nicht sinnvoll diskutiert werden können.»

Aber sicher.

Minkowski weiter: «Die Aufgabe, einen solchen mittragend vorzubereiten,
ist dabei als solche nicht durch die Fachwelt ­ in eigener Initiative ­
wahrzunehmen. Letztere aber ist verpflichtet, bei der Erarbeitung dieses
„vorbereitenden Hintergrunds“ in aller nur möglichen Form zur Seite zu
stehen.»

Natürlich. Danke. Ich bin bereit.

Aber ich hätte es wissen müssen. Ich scheitere schon bei der Skizze und
ihren Erläuterungen: Eine Darstellung des Gleichzeitigkeitsproblems, die
Grundlage von Einsteins revolutionärer Einsicht in die Relativität von
Zeit und Raum. Minkowski erfindet das Blau-Land und das Rot-Land als
Referenz- oder Inertialsystem, in dem diese Beobachtungen gemacht
werden. Minkowski geht von einer Zugreise von Zürich über Olten nach
Bern aus und einem Mittagessen, das um 12 Uhr eingenommen wird:

«Die Raumkrümmung der (mittleren) Erdoberfläche ebenso wie alle
Abweichungen bezüglich der „Geraden“, auf der die Orte Z, O, B in
Blau-Land liegen, sind vernachlässigt.»

Das Diagramm soll aufzeigen, dass die Gleichzeitigkeit von zwei
Ereignissen an verschiedenen Orten abhängig ist vom Bewegungszustand des
Beobachters.

Alles klar. Eigentlich.

Wenn nur die Erklärungen einem nicht alles vermiesen würden.

«Die Rot-Land-Raum-Zeit-Koordinaten (t = 0 , x = 0) werden so angesetzt,
dass beim Vorbeifahren in Olten um Mittag (heute), gemäss Blau-Land…»

…ich schwitze. Schon damals, als der Physiklehrer mit der Kreide an
der Wandtafel herumwanderte und grosszügig Reibung und andere kleine
Abweichungen vernachlässigte, hatte ich nicht viel mehr als Bahnhof
verstanden. Da war ich wieder. Olten, alles aussteigen.

Die Teamarbeit

Vorsichtig bitte ich Professor Minkowski um nicht zu lange Antworten.
Wenn möglich ohne Berechnungsgrundlagen und so. Einfach in Worten.
Möglichst verständlich eben. Einigermassen, wenigstens. Denn noch
stecken wir erst in den einführenden Gedanken. Mein physikalisches
Resthirn ächzt.

«Die entsprechende Aussage in Rot-Land ist: Eben sind wir heute 12 Uhr
Rot-Land-Zeit in Olten vorbeigefahren. Die Rot-Land- und
Blau-Land-Zeiten waren bei der Vorbeifahrt identisch. Gemäss
Rot-Land-Zeit heute 12 Uhr hat das Mittagessen in Olten eben begonnen,
in Bern schon vor geraumer Zeit, in Zürich wird noch einige Zeit bis zum
Mittagessen vergehen.»

Von Hunger verspüre ich nichts. Aber irgendetwas knurrt.

Der Professor will Teamarbeit. Warum nicht. Schon am Telefon hat er
angekündigt, dass er sich Mühe geben werde, dass es für ihn auch nicht
leicht sei, das Ganze wie gewünscht auf den Punkt zu bringen. «Die von
mir angedeutete Aufgabenteilung», schreibt er im nächsten Mail, «ist in
der mir bekannten (Schweizer) Umgebung (Presse, Medien, allgemein)
ungenügend verstanden und leider der angedeutete vorbereitete
Hintergrund praktisch nicht vorhanden.» Deshalb hoffe er, «dass eben zu
meinen kurz gefassten Antworten „vorbereitend“ Ihnen eine Durchsicht des
obigen Files „behilflich“ sein kann.»

Wir teilen diese Hoffnung. Und doch warten wir letztlich nur auf die
entscheidenden paar Sätze, in denen der Professor alles schön
anschaulich darlegt. Die Relativitätstheorie und solche Sachen.
Vermessenheit ist die Hilflosigkeit des Journalisten.

Vor der endgültigen Antwort auf die erste Frage schickt Minkowski das
File «Luzern1345.pdf». Es enthält quasi eine erste Möglichkeit der
Antwort, «damit Sie die Art Antworten, die ich im Stande bin zu geben,
voraus abwägen können». Beim nächsten Satz spüre ich sein leichtes
Stirnrunzeln.

«Nun aber eine Bemerkung, die ich sehr ernst meine: Ohne eine Skizze der
Berechnungsunterlagen, wie Sie es nennen, kann auf Ihre Frage 1 nicht
eingegangen werden (ich jedenfalls kanns nicht).»

Ein Professor, der eingesteht, dass er etwas nicht kann. Ich triumphiere
nicht. Ich muss zuerst selber können. Das Blau-Land ruft. Und das
Rot-Land auch.

Klong. Weitere Mails treffen ein. Professor Minkowski teilt mit, dass er
an der Arbeit sei, oder nimmt Bezug auf meine heimlichen Hilferufe. Aus
einem P. S.:

«Die eigentliche Antwort zu Ihrer Frage über die „Relativität der
Gleichzeitigkeit“ werde ich im nun auszubauenden Teil eines erweiterten
gleichnamigen Files (Glzeit.pdf) bis Dienstag ausführen.»

Die Erschütterung

Im nun auszubauenden Teil eines erweiterten gleichnamigen Files? Ich
schlucke. Später am Tag zum ersten Mal ein schlechtes Gewissen, denn:

«Ich gebe mir alle Mühe, aber das Vorbereiten einer Diskussionsbasis ist
nicht so einfach, auch zeitlich.» Zwei Tage später erneut der Professor:
«Für heute bin ich einfach erschöpft und versichere Ihnen, dass ich
alles, was mir möglich war, im Sinne eines beiden gemeinsamen,
vielleicht aber unklaren Ideals, getan habe.»

Ich bin erschüttert.

Aber es öffnet sich eine neue Welt. Der Professor wird in seiner
vordergründigen Zerstreutheit immer milder und beginnt auszuholen, wenn
ich etwas nachfrage. In mehrstufigen Nebensätzen und Assoziationen geht
es quer durch Wissenschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, Religion. Die
Beantwortung der eigentlichen Fragen tritt langsam in den Hintergrund.
Wir haben es beide innerlich aufgegeben. Der eine wollte aus dem Innern
der Theoretischen Physik das Wesentliche vermitteln und wusste, dass er
das alleine nicht so konnte, wenn es im heutigen Sinne des Medienkonsums
verständlich sein sollte. Der andere wollte etwas verstehen, von dem er
wusste, dass er es alleine nicht schaffte, wenn es nicht jemand
praktisch pfannenfertig vorkauen würde. Aber Minkowski kaute nicht vor,
er schweifte, verlangte, motivierte.

Pünktlich treffen am Dienstagabend die Antworten ein. Knapp die Hälfte
ist beantwortet, ziemlich kurz und bündig, aber nicht verständlich ohne
erklärende Anmerkungen. Auf den Rest der Fragen ist Minkowski gar nicht
erst eingetreten. Er muss erkannt haben, dass es ohnehin keinen Zweck
hat, nur schon mit der vorbereitenden Basis zu beginnen, solange der
Empfänger noch immer im Blau-Land und im Rot-Land herumirrt:

«Gleichzeitig sehe ich, dass zu den weiteren Fragen weitere Basis-Files
nichts mehr beitragen können, sodass nichts Weiteres mehr folgt.»

Ich nicke innerlich. Das wars dann wohl.

Die Gelassenheit

Aber die Gespräche kommen erst recht in Gang. Die Liebenswürdigkeit des
Professors kennt keine Grenzen. Wir spenden uns Trost. Er ist für mich
jederzeit erreichbar. Er gibt mir seine Handynummer. Es ist wie in der
Therapie. Rufen Sie mich ungeniert an. Er beginnt über Gott und die Welt
zu reden. Die Schwierigkeit des Vermittelns wird zum Thema. Die Kluft
zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die Haltungen dahinter, die
verschiedenen Interessen. So sind wir, ganz medientauglich, vom
Nichtverstehen einer Sache unweigerlich zur Person gelangt. Minkowski
der Physiker, Minkowski der Mensch, Minkowski der Philosoph. Das
interessiert mich. Die Relativitätstheorie können wir im Internet
nachschlagen.

Da offenbart sich ein Wissenschaftler, der mit Leidenschaft
theoretischer Physiker ist wie andere Fussballer sind, und der keinen
Unterschied zwischen diesen Tätigkeiten macht. Der sich nicht nervt,
wenn die breite Masse nicht versteht, was für ihn klar ist wie ein Ball,
der rund ist. Der die heute grassierende Verstummung und die
Banalisierung vieler Lebensphänomene zwar «betrüblich» findet, aber die
Agierenden und Betroffenen deshalb nicht verurteilt.

«Man darf die Mitleute nicht überfordern, diese Tendenzen sind nicht nur
schlechter Wille. Es ist einfach so. Deswegen müssen wir den Dialog
trotzdem führen. Trotzdem unsere Sache machen.»

Wie sieht dieser Minkowski aus? Was treibt er den ganzen Tag? Ich
beginne zu fantasieren. Und lasse den Professor mäandern. Von Katharina
der Grossen und Euler über die Atombombe und den Pazifismus bis zum
Rabbi und zur Bibel. Er sieht den Zwiespalt zwischen dem Elfenbeinturm
Physik und dem steigenden Bedürfnis von Menschen nach einfachen
Erklärungen. Aber unbeirrt hält er fest, dass er mit seinem Wissen und
seiner Beschäftigung in erster Linie etwas für die Gemeinschaft tut.
«Eine andere Rechtfertigung solcher Tätigkeiten sehe ich eigentlich
nicht.» Immer wieder Gelassenheit, Bescheidenheit, Humor. Eine
billionstel Sekunde Licht.

Der Lichtstrahl

Und plötzlich sehe ich Minkowski, Olten 12 Uhr (heute), er fährt im Zug
vorbei, Strecke Zürich­Bern, ich stehe im Bahnhof Olten. Wir schauen
beide auf die Uhr. Einer ist in Blau-Land, der andere in Rot-Land. Beide
haben die gleiche Zeit, aber nicht die gleiche Bewegung. Wir kommen
voran auf dem Lichtstrahl. Es hat nicht für die Beantwortung der Fragen
gereicht, aber für eine wohltuende Begegnung, für die ich gerne ein
Lichtjahr Journalismus eintauschen würde. In Blau-Land ist alles klar.
In Rot-Land eigentlich auch. Einstein streckt die Zunge raus. Noch Fragen?

© Neue Luzerner Zeitung; 09.04.2005; Seite 40